Recruiting Insights
Diversity – Mehr als ein flüchtiger Regenbogen?
Vor wenigen Monaten noch schillerten die Logos vieler Unternehmen aus zahlreichen Branchen in den schönsten Regenbogenfarben.
Vor wenigen Monaten noch schillerten die Logos vieler Unternehmen aus zahlreichen Branchen in den schönsten Regenbogenfarben. Die Corona-Krise mit ihren drastischen Auswirkungen auch auf die Wirtschaft rückte das Thema in den vergangenen Wochen zwar in den Hintergrund, doch ändert dies generell nichts daran, dass Diversity als coole, liberale und weltoffene Einstellung zunehmend Einzug in den Berufsalltag hält und den Eindruck alltäglicher Selbstverständlichkeit erweckt. Das scheint offensichtlich – aber stimmt es auch?
Constantin Trapp und Dr. Karl-Heinz Weiss-Trapp sprachen ausführlich mit Prof. Dr. Carmen A. Finckh, die sich an der Hochschule Reutlingen unter anderem mit den Forschungsschwerpunkten Diversity-Management und Diversity-Controlling befasst, über ihre Erkenntnisse.
Thronsberg: Frau Prof. Finckh, nehmen Unternehmen Diversität tatsächlich ernst oder ist es für viele einfach ein Thema, an dem man aufgrund der gesellschaftlichen Diskussion nicht vorbeikommt?
Prof. Finckh: Unternehmen nehmen sich dem Thema sehr unterschiedlich an. Grob lassen sich vier Typen von Unternehmen klassifizieren und identifizieren:
Im ersten Typ sind Unternehmen, die das Thema Diversity auf der Agenda haben und es auch professionell abarbeiten. Sie führen die vielfältigsten Maßnahmen durch und schaffen tatsächlich verbesserte Rahmen- und Arbeitsbedingungen für Diversität. Trotzdem schaffen es auch viele diese Unternehmen nicht, zum Beispiel mehr Frauen in Top-Führungspositionen zu bringen.
Dann gibt es Unternehmen vom Typ 2, die viele Aktivitäten nach außen zur Schau stellen. Wenn man aber hinter die Fassade blickt, fragt man sich, wie ernsthaft es tatsächlich betrieben wird. Die Beschäftigten spüren das meiner Erfahrung nach immer. Durch diesen blinden Fleck leidet nicht nur die Glaubwürdigkeit des Managements, sondern auch alle Initiativen rund um das Thema. Ernsthafter Wandel kann unter diesen Rahmenbedingungen kaum stattfinden. Es fehlt einfach das aufrechte, ehrliche Interesse der Verantwortungsträger.
Typ 3 Unternehmen haben mit dem gesamten Thema nichts am Hut und leben gut damit. Ihnen ist es nur peinlich, wenn sie darauf angesprochen werden. Da regt sich doch das Gewissen, vielleicht etwas zu verpassen beziehungsweise zu übersehen. Manchmal „nerven“ dann noch selbstorganisierte Gruppen im Unternehmen, beispielsweise Frauennetzwerke, die sich organisieren, um das Thema zu platzieren. Manchmal verändert sich dann im Laufe der Zeit durch einen Wechsel bei den Eigentümern oder im Top-Management die Einstellung zu dem Thema.
In Typ 4 Unternehmen ist Diversity eine Selbstverständlichkeit. Sie wird einfach gelebt, ohne sie jemals zu thematisieren. Dies ist manchmal bei kleinen Familienunternehmen und bei Start-ups zu beobachten.
Thronsberg: Wie beurteilen Sie die allgemeine Einstellung zum Thema Diversity?
Prof. Finckh: Als Gleichstellungsbeauftragte der Hochschule Reutlingen habe ich als Umsetzerin in einer Typ 1 Institution gearbeitet. Es ist für mich sehr lehrreich gewesen, herauszufinden, wie eine Veränderung tatsächlich erreicht werden kann.
In allen Unternehmen ist ebenso wie in der Gesamtbevölkerung ein interessantes Phänomen zu beobachten. Obwohl Diversity-Themen durch Globalisierung, Migration und Populismus explosionsartig zugenommen haben, spricht man bereits von einer Diversity-Müdigkeit auf allen Ebenen. Viele Initiativen, Projekte und Personengruppen, die sich seit 20 oder auch 30 Jahren für Veränderungen einsetzen, erkennen, dass sich die Gesamtsituation in Deutschland in den letzten 10 bis 20 Jahren nur vereinzelt, aber nicht generell verbessert hat. So sind wir im Globalen Gender Index immer noch nicht unter die 10 besten Länder der Welt vorgerückt. Um zum Beispiel bessere Bedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu haben, müsste man konsequenterweise in der Familienphase in Island oder Skandinavien leben, nicht in Deutschland.
Die Menschen scheinen sich aber an die Situation hier in Deutschland gewöhnt zu haben. Des Weiteren wird das Thema durch andere Themen abgelöst. Wir diskutieren beispielsweise an der Hochschule als das Zukunftsthema fast nur noch Digitalisierung. Interessanterweise beinhaltet dies auch viele Diversity-Aspekte, wie das Thema Gender in Sozialen Medien oder in KI, die noch viel zu wenig diskutiert werden. Das sind wirklich wichtige Themen in Bezug auf unsere zukünftige Gesellschaft.
Thronsberg: Wo sehen Sie ernsthafte Bemühungen und Fortschritte im Diversity-Management?
Prof. Finckh: Es stellt sich immer die Frage, wie Menschen tatsächlich Veränderungsbedarfe erkennen und auch entsprechend handeln. Besteht also eine Einsicht in die Handlungsnotwendigkeit und ein Wille zur Veränderung? Hier sind Menschen wohl grundsätzlich unterschiedlich, insbesondere hinsichtlich dieses komplexen Themas, von dem viele nur rudimentäre Vorstellungen haben. Viele Manager haben das Thema Diversity nicht ernsthaft auf dem Schirm. Warum auch, wenn Wachstum und Profit doch noch die vorherrschenden Orientierungsmaßstäbe sind. Zudem kommt das Thema in der Ausbildung viel zu kurz. Wenn ein Umdenken oder Andersdenken stattfindet – gegen den gängigen Mainstream der Managementlehre - dann ruft das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch entsprechende Gegenkräfte hervor. Wie schwer es ist, gewachsene Unternehmenskulturen nachhaltig zu verändern, wissen wir alle. Diversity bedingt immer auch das Verändern von Führung und Kultur in einem Unternehmen.
Da Diversity-Themen eng und direkt mit den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen eines Landes verwoben sind, können meiner Ansicht nach die Herausforderungen auch nur auf diesen übergreifenden Ebenen grundsätzlich gelöst werden. Es gibt viele Institutionen und Organisationen, die diesen Wandel treiben. Das zeigen die skandinavischen Musterländer sehr eindrücklich auf. Es stellt sich die Frage, wie angesichts der Polarisierung unserer Gesellschaft und deren Abbildung in der Parteienlandschaft dies zukünftig weiter möglich ist. Hier geht es um die Diskussion von Grundrechten zur Partizipation und Grundwerten des Zusammenlebens.
Thronsberg: Lassen sich dabei Branchenunterschiede feststellen, zum Beispiel bezüglich Frauen und Karriere?
Prof. Finckh: Ja, wirklich erstaunlich ist die Situation in Banken und auch Unternehmensberatungen.
Trotz eines ausgeglichenen Geschlechterverhältnisses im Finanzsektor von einem Frauenanteil der Gesamtbeschäftigten von 52 %, liegt der Anteil in der 2. Führungsebene (unter der Geschäftsleitung) bei 21 %, wohingegen er branchenübergreifend bei 40 % liegt (Kohaut & Möller, 2017, S. 3). Konkret bedeuten diese Zahlen einen 2,7-fachen Chancennachteil von Frauen, in eine höhere Führungsposition zu gelangen (Holst & Friedrich, 2016, S. 832f.) Damit ist in keinem anderen Sektor die Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen so gering wie im Finanzsektor respektive dem Bankwesen.
Wir haben versucht, die tieferen Gründe dafür herauszufinden. Bei den Banken kamen wir zu dem Schluss, dass es sich wohl historisch entwickelt hat und so Bestandteil der DNA dieser Branche ist. Es herrschen überwiegend eine männlich dominierte Führungskultur und stark ausgeprägte Männernetzwerke mit dominierendem Kronprinzenmodell bei gleichzeitig ausgeprägter Präsenzkultur vor. Dennoch begegne ich immer wieder ambitionierten Frauen bei Finanzdienstleistern, die sich auch in diesen Unternehmen sehr gut behaupten. Sie sind allerdings noch in einer kritischen Minderheit. Ich stelle mir oft die Frage, ob sie das entsprechend individuell aushalten können
Eine andere These ist, dass es am Thema Finanzen und Frauen/Familien grundsätzlich liegt. Das viel größere Thema dahinter ist meiner Ansicht nach die Fragestellung nach der finanziellen Situation – vielleicht auch Unabhängigkeit – von Frauen über ihren Lebenszyklus hinweg, betrachtet unter Berücksichtigung verschiedener Lebensformen. Beispielsweise bei dem Thema Vereinbarkeit und Gender Pay Gap müssten wir für Frauen in Familienkonstellationen die Familie und nicht die Einzelperson als Untersuchungsgegenstand begreifen.
Thronsberg: Wie beurteilen Sie die Entwicklung bei Unternehmensberatungen?
Prof. Finckh: Zunächst zu ein paar erschreckenden Fakten:
Eine Bestandsaufnahme aus dem Jahr 2014 bei großen Beratungsgesellschaften mit über 10 Mio. € Umsatz zeigt, dass auf Ebene der Consultants der Anteil an weiblichen Mitarbeitern noch bei 33% lag, während auf Ebene der Partner lediglich ein Frauenanteil von 4% vorhanden war. Eine positive Entwicklung ist nicht erkennbar. Im Rahmen einer Hausarbeit haben Studierende sich sechs sehr erfolgreiche Managementberatungen mit einem Umsatz zwischen 190 und 600 Mio. € näher angeschaut. Es ist wirklich erschreckend. Der Anteil von Frauen auf Ebene der Partner beträgt 0 bis10%, mit einem Durchschnitt von rund 5%.
Es stellen sich zwei Fragen, erstens, woran liegt das und zweitens, was sind die Folgen? Bei Unternehmensberatungen treffen sicherlich auch alle typischen Gründe zu, die Frauen grundsätzlich von Top-Positionen abhalten. Dies aber in verschärfter Form.
Eine studentische Befragung ergab darüber hinaus, dass sich 52% der männlichen und lediglich 28% der weiblichen Studenten vorstellen können, Partner in einer deutschen Unternehmensberatung zu werden. Demgegenüber können sich 84% der männlichen und 67% der weiblichen Studenten vorstellen, Führungskraft in einem Unternehmen einer anderen Branche zu werden. Hierdurch wird die verhältnismäßig niedrigere Attraktivität im Vergleich zu anderen Führungspositionen aus Sicht der Studierenden deutlich. Studentinnen bewerten ihre Chance, Partner in einer Unternehmensberatung zu werden, als auch die Chance, eine Führungsposition wahrzunehmen, schlechter als ihre Kommilitonen. Hier haben die Hochschulen einen Handlungsbedarf bezüglich des Mindsets der Studierenden.
Thronsberg: Welche Aspekte sind somit besonders wichtig?
Prof. Finckh: Ich frage mich zum Beispiel, ob es sich Unternehmensberatungen wirklich leisten können, auf das weibliche Potential auf allen Ebenen zu verzichten.
So stellt die Diversität eines Unternehmens gerade bei Millennials ein entscheidendes Kriterium bei der Beurteilung der Attraktivität eines Unternehmens dar (Martel, 2019). Während die großen Beratungsunternehmen wie McKinsey, The Boston Consulting Group und Bain & Company über lange Zeit unangefochten die Liste der beliebtesten Arbeitgeber von Wirtschaftswissenschaftsstudenten in Deutschland angeführt haben, sind auf den vorderen Plätzen mittlerweile Automobilhersteller und Informationstechnologieunternehmen wie Google, Apple und Amazon zu finden (Becker, 2013). Gleichzeitig schneiden die großen Unternehmensberatungen bei Diversity-Rankings auf Basis von Mitarbeiterbefragungen vergleichsweise schlecht ab: Innerhalb des ,,Diversity-Leaders“-Rankings der Financial Times von 2019 befinden sich beispielsweise unter den 600 bewerteten europäischen Unternehmen nur drei Unternehmensberatungen unter den 100 Bestplatzierten. Der Großteil der Consultingfirmen belegt hingegen einen der hinteren Plätze.
Die hohen Wachstumsraten und Gewinne der letzten Jahre bejahen diese Frage aus finanzieller Sicht. Wenn es aus finanzieller Sicht vielleicht nicht erforderlich ist, Diversität in Unternehmensberatungen abzubilden und zu leben, dann frage ich mich, was das für Effekte haben kann. Diskussionswürdig halte ich etwa die Frage, wie Unternehmensberatungen andere Unternehmen wirklich in ihren Bemühungen, Diversität zu verankern, unterstützen können, wenn die Beratung dies selbst nicht im Repertoire hat, es in ihrer Organisation selbst nicht gelebt und erlebt wird. Wie kann das gehen? Ich halte Unternehmensberatungen, die Diversity, ebenso wie andere Aspekte der Nachhaltigkeit, nicht auf dem Schirm haben, für nicht zeitgemäß. Sollten Unternehmensberatungen nicht hier moderne Vorreiter sein?
Thronsberg: Woran können Bewerber erkennen, wie ernst ein potentieller Arbeitgeber das Thema Diversity behandelt?
Prof. Finckh: Es stellt sich erst einmal die Frage, wie wichtig dieses Thema dem Bewerber überhaupt selbst ist. Ist seine beziehungsweise ihre sogenannte Employability hoch genug, um Forderungen zu stellen? Wie stellt sich der Arbeitsmarkt generell dar? Eine Studie bei unseren Studierenden hat gezeigt, dass das Thema Diversity tatsächlich nur eine nachrangige Bedeutung für die Absolventen bei der Auswahl des ersten Einstiegsjobs hat. Später sieht das sicherlich anders aus.
Die Sensibilisierung für dieses Thema beginnt eigentlich erst richtig im Beruf nach ein paar Jahren. Die Studienabgänger erkennen die Probleme nur eingeschränkt und gehen davon aus, dass sie davon nicht betroffen sind. Falls sie schon reflektiver unterwegs sind, dann sind unterschiedliche Arten des Umgangs mit dem Thema zu beobachten. Branchen, Unternehmen und Funktionen werden vermieden, von denen man gehört hat, dass sie zum Beispiel Frauen nicht fördern. Eigene Karriereziele werden teilweise schon vorweg reduziert, weil man selbst nicht an eine Vereinbarkeit glauben kann. Eine Bereitschaft, gegebene Rahmenbedingungen in Frage zu stellen und sich vorzustellen, diese zu verändern, ist selten erkennbar. Das ist allerdings auch nicht verwunderlich.
Um herauszufinden, inwieweit ein Unternehmen tatsächlich Frauen unterstützt, wirklich gegen Homophobie vorgeht oder Menschen mit Migrationshintergrund unvoreingenommen entgegentritt, hilft nur, hinzuspüren und sich in den sozialen Netzwerken diesbezüglich zu erkundigen, falls man im Unternehmen niemanden kennt. Die offensichtlichen Indikatoren, wie der Frauenanteil im Top-Management, die Anzahl von Diversity-Maßnahmen oder Zertifikate, sind nur bedingt aussagekräftig. Es steht und fällt mit der gelebten Praxis der Führungskräfte. Muss man Selbstverständlichkeiten erst einmal einfordern, dann ist es sowieso schon schwierig genug. Ich würde als Bewerberin direkt danach fragen, welche Möglichkeiten es zum Beispiel gibt, Familie und Beruf zu vereinbaren. Warum sollte man damit warten, bis man im Job ist?
Thronsberg: Wo sehen Sie für die kommende Dekade das größte Diversity-Potential in Unternehmen und damit verbunden einen weiteren Abbau gesellschaftlicher Vorbehalte?
Prof. Finckh: Ich stelle mir drei Fragen bezüglich der Zukunft: Erstens, was benötigen wir, um unsere politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungsprozesse in den kommenden Jahren zu bewältigen? Wie schaffen wir es, mit den Erosionserscheinungen (Parteienlandschaft, Welthandel, Umwelt, soziale Spannungen, etc.) umzugehen? Was benötigen wir hierfür? Wir müssen die herkömmlichen Diversity-Konzepte hinterfragen und uns fragen, was wir jetzt benötigen. Sicherlich brauchen wir das Zusammenarbeiten von Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven und gleichen Werten.
In den neuen kollaborativen Netzwerken stellt sich die Frage nicht, welches Geschlecht oder welche Nationalität man hat. Es stellt sich die Frage, welchen Beitrag man zur Verbesserung der Welt leisten kann und will. Gemeinsam mit Menschen, die diese Veränderungsvision teilen, können wir dann die Themen angehen. Also, Diversity muss auf einer höheren Ebene neu erfunden werden, um zum Wohle unserer Welt wirken zu können.